Im Rahmen der Ringvorlesung an der UHH

Zur Anthropologie von Gesundheit und Krankheit in der Psychiatrie

SS 2017: Zwang vermeiden – gesunde Milieus fördern

Habe ich am 20. Juni 2017 diesen kleinen Vortrag gehalten, der vielleicht ein paar der Missstände im sozialen System verdeutlichen kann:

Das Dilemma - Eine kleine Brandrede

“Man erkennt den Wert einer Gesellschaft daran, wie sie mit den schwächsten ihrer Glieder verfährt”, ein Zitat von Gustav Heinemann, das aber auch von Gandhi und anderen mit sehr ähnlichen Worten ausgesprochen wurde. Ein Zitat, das in den Köpfen von Menschen mit Herz und Verstand widerklingt, im Schädel hämmert, auf der Seele brennt. Ein Zitat, das mich mit tiefer Scham und Unverständnis erfüllt, sobald ich mich umsehe.

Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt, die soziale Marktwirtschaft soll trotz Freiheit auf dem Markt für sozialen Ausgleich sorgen. Sozialversicherungen sollen dafür sorgen, dass Krankheit und Krisen gemeinsam von allen getragen werden.

Soweit die Theorie. In der Praxis landet von sehr viel erwirtschaftetem Kapital sehr wenig in sozialen Systemen. Auf der anderen Seite werden Kliniken und andere psychiatrische Einrichtungen wie Unternehmen geführt. Wirtschaftliche Interessen stehen im Vordergrund, der einzelne Mensch wird zum Kostenfaktor, muss zurückstecken.

Menschen, die in Deutschland auf Hilfe angewiesen sind, um Krisen zu überstehen, bewegen sich weiterhin oft am Rande der Gesellschaft, geraten mit einem System in Kontakt, das chronisch finanziell unterversorgt ist, dessen Mitarbeiter von Anfang an wenig gewürdigt werden, das fragwürdig organisiert und zerfasert strukturiert ist. Ein System, das immer noch zu wenig präventiv und aufklärend arbeitet, das viel zu wenig Mittel in Gehälter, Aus- und Weiterbildung steckt.

Ein Beispiel: Auf der einen Seite sind da meine Ex-Frau, sie ist Heilerzieherin, mein Mitbewohner Altenpfleger, meine Cousine ist am Ende ihrer fünfjährigen Ausbildung zur Erzieherin, die sie selbst finanzieren muss. Auf der anderen Seite sind da zum Beispiel mein guter Freund, Bankkaufmann, und ich, Softwareentwickler. Wo sind die Unterschiede? Die erste Gruppe hat den wichtigeren verantwortungsvolleren Job, die zweite Gruppe verdient mehr als das Doppelte. Wie kann das sein?

Der Idealismus der einzelnen Mitarbeiter - zumindest derer, die noch nicht selbst ausgebrannt oder völlig frustriert sind - ist das einzige, was das System zusammenhält, was überhaupt dafür sorgt, dass Menschen noch Pfleger oder z.B. Ergotherapeuten werden.

Aber das ist ja nur der erste kleine Ausschnitt eines traurigen Gesamtbildes. Die engagierten Mitarbeiter - auch Genesungsbegleiter - werden nicht nur durch ein Gehalt gedemütigt, das nicht ihrer Leistung entspricht; das Geld fehlt auch an diversen anderen Ecken. Teams sind regelmäßig unterbesetzt und eine Einsparungsmaßnahme jagt die nächste, während gleichzeitig die Bedürftigkeit wächst:

So halten zum Beispiel einerseits immer mehr Menschen nicht mit bei den Herausforderungen, die Job und Gesellschaft ihnen auferlegen. Auf der anderen Seite gibt es immer mehr alte Menschen mit psychischen Problemen. Die Geronto-Psychiatrie ist überlastet, normale Einrichtungen der Altenpflege können nicht jede Herausforderung in diesem Bereich angemessen übernehmen. Und die geburtenstarken Jahrgänge kommen jetzt erst in den Systemen an.

In der Pflege heißt das Motto schon längst “satt und sauber”, für ein Gespräch fehlt meist die Zeit. Dabei sind es doch gerade die Gespräche, die Unzufriedenheit und somit auch Gewalt und Zwang vorbeugen. Der Mensch wird am du zum ich und so kann insbesondere das Gespräch dabei helfen, dass der Mensch in einer “Verwahr-Station” Mensch bleiben darf.

Doch es ist nicht nur das Geld, das fehlt. Mit den zur Verfügung stehenden Mitteln wurde ein System geschaffen, das sich an allen Ecken selbst im Weg steht.

Ich selbst habe zwei Praktika bei der Integrierten Versorgung West absolviert. Ich bin der Meinung, dass es sich bei dem Angebot um ein sehr gutes, modernes, progressives handelt, welches die Psychiatrielandschaft erweitert und verbessert, Hospitalisierung und Stigmatisierung vorbeugt, indem es bemüht ist, den Klienten im vertrauten Kreis ambulant zu unterstützen.

Allerdings muss die IV dabei fürchten, von den Krankenkassen abgestraft zu werden, wenn dann doch mal ein Klient in die Psychiatrie muss, da die Krankenkassen das Angebot “Netzwerk psychische Gesundheit” natürlich finanzieren, um Geld bei den Psychiatrie-Aufenthalten einzusparen.

Die Krankenhäuser auf der anderen Seite haben zumindest finanziell kein großes Interesse daran, Werbung für die IV zu machen, die ihnen die Kunden “abspenstig” macht, obwohl gerade beim Übergang stationär zu ambulant die Stärke der IV zum Tragen kommt, einer sogenannten Drehtür-Psychiatrie entgegenzuwirken.

Auf den Soteria-Stationen wird versucht, mit so wenig Psychopharmaka wie möglich auszukommen, was ich für einen guten Ansatz halte. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass die Pharmaindustrie das ganz anders sieht. Und es wird ja gemunkelt, die Pharmaindustrie habe hier und dort noch einen gewissen Einfluss auf das Gesundheitssystem.

Noch ein Beispiel: Die Krankenhäuser dürfen jetzt Home-Treatment statt stationärer Behandlung anbieten und werden dafür mit relativ viel Geld ausgestattet. Dies ist zweifellos eine großartige Entwicklung. Leider kommt es je nach Umsetzung vielerorts zu einer Konstellation, bei der die Kliniken in Konkurrenz treten zu guten etablierten Einrichtungen der ambulanten Sozialpsychiatrie oder auch der Integrierten Versorgung.

Was können wir als Genesungsbegleiter nun tun, damit sich diese Missstände verbessern? … Nicht allzu viel, befürchte ich.

Aber wir können im Kanon unserer Kollegen, auch der gelehrten Profis, deren Korrektiv wir manchmal sind, deren Meinung wir nicht immer teilen, wir können in deren Kanon mit einstimmen, laut werden um auf fehlende Mittel sowie auf Fehler im System aufmerksam zu machen; bei der Arbeit, beim Gesetzgeber, in der Öffentlichkeit, im Freundeskreis.

Wir können dazu beitragen, Betroffenen den Weg zu ebnen, vom Rande der Gesellschaft zurück in ihre Mitte.

Und auf der anderen Seite können wir einen gewissen Gleichmut, eine Zähigkeit und Akzeptanz mitbringen, um jeden Tag in einem unvollkommenen System trotzdem unsere Erfahrung einzubringen und gute Arbeit zu machen.

Wir können dabei ein leuchtendes Beispiel sein für alle Betroffenen, aber auch für alle Profis.

In diesem Sinne: lasst uns leuchten!